Die Zukunft der Oberfläche ist funktional
Der Herd im Jahr 2023. Knöpfe sind nicht zu sehen. Heizplatten ebenso wenig. Nähert sich die Hand der glänzenden Fläche auf etwa fünf Zentimeter, leuchtet wie von Geisterhand der plan integrierte On-Off-Schalter auf. Am Kühlschrank blinkt wenig später eine rote Lampe. Über ein Display kann der Grund des „Alarms“ ausgelesen werden. Es ist der Joghurt, der vermeldet, dass sein Ablaufdatum morgen erreicht ist.
Utopie? Überhaupt nicht. Bereits jetzt können in Lebensmittel-Verpackungen Sensoren integriert werden, die die gewünschten Informationen übermitteln. Denn in der Möbelindustrie haben bereits vor einigen Jahren Themen wie „Predictive Maintenance“ Einzug gehalten.
Ein anderes Beispiel: „Wenn ich mit 150 km/h auf der Autobahn fahren, benötige ich dann den Knopf für den Tankdeckel?“, fragt Dr. Erhard Barho, Leiter Neue Geschäftsfelder beim Oberflächenspezialisten Continental. Die Antwort ist klar. Der Knopf für den Tankdeckel ist trotzdem in 95 % aller Autos verbaut und immer da. „Warum eigentlich? Wenn wir doch in der Lage sind jeder Oberfläche intelligent eine Funktion zu geben“, so Barho. „Und damit sogar noch den Trend nach „Shy Tech“ (intuitive Interaktionsflächen) umsetzen können und sich zudem neue Möglichkeiten in Sachen Design eröffnen.“
Im September 2020 stellte Ralf Imbery, bei Continental weltweit verantwortlich für Innovationen, Transformation und Design von Oberflächenmaterialien, die ambitionierten Pläne des Technologiekonzerns in Sachen Zentrum für funktionalen Druck auf der B2B-Konferenz „Surface in Motion“ (Veranstalter: arcade + möbelfertigung)erstmals vor. Die Branche reagierte mit einer Mischung aus Begeisterung und ungläubigem Staunen. Der Nutzen für die Branche war und ist klar umrissen: „Wir wollen und können der Möbelindustrie durch gedruckte Funktionen Möglichkeiten aufzeigen beziehungsweise helfen, ein noch besseres Angebot zu machen und noch wertigere Produkte an den Endverbraucher zu verkaufen.“
Bereits seit 2014 beschäftigen sich das in Freiburg ansässige Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme ISE und Continental mit gedruckter Elektronik. Hauptabnehmer war die Verpackungsindustrie, eine Branche, die auch in Zukunft weiter boomen wird. Die visionäre Idee zum Bau des Technologiezentrums für funktionalen Druck konkretisierte sich im Konzern dann 2017. Zwangsläufig fiel durch die enge Partnerschaft von Continental zum Fraunhofer Institut ISE die Wahl auf den Standort Freiburg im Breisgau. Zudem befindet sich der Continental-Standort Herbolzheim in der Nähe.
2,45 Mio. Euro investierte das Unternehmen bislang. Insgesamt stehen 1.500 qm zur Verfügung, 200 davon entfallen auf das Labor. 650 qm sind für künftige Erweiterungen vorgesehen. Beeindruckendes Herzstück des Zentrums ist die sogenannte Prototypen-Druckmaschine. Mit modernstem High-Tech ausgestattet, misst sie in der Länge sieben Meter und wiegt zehn Tonnen. Dabei können die zu bedruckenden Oberflächen eine maximale Größe von 300 x 300 mm haben. Die Druckbreite beträgt 290 x 290 mm, die Dicke des zu bedruckenden Materials maximal 4 mm, die Druckgenauigkeit plus-minus 10 Mikrometer. Das Substrat kann vor dem Drucken zudem mit Plasma vorbehandelt werden, was die Benetzbarkeit der Oberfläche verbessert.
Die Technikums-Anlage kann mit sieben unterschiedlichen Druckverfahren betrieben werden. In einem Durchgang lassen sich pro Substrat bis zu drei Print-Arten kombinieren. Gehalten werden die harten und flexiblen Materialien von einem Vakuumstein. Das Trocknen ist als Infrarot-Trocknung (Wärme), UV-Vernetzung sowie photonisches Sintern möglich. Dabei können verschiedenste Druckverfahren mit verschiedensten Trocknungsmöglichkeiten kombiniert werden. Darüber hinaus ist im Zentrum ein Handschuhkasten für Arbeiten unter Schutzgas-Atmosphäre untergebracht. Dort sind Druckversuche unter Reinraumbedingungen möglich.
Außerdem bietet Continental in Freiburg über das Drucken beziehungsweise Beschichten hinaus eine ganze Reihe von weiteren Services an. Zur Analyse und Charakterisierung von Oberflächen sind 3D-Mikroskopie, elektronische Funktionsprüfungen, das Messen von Oberflächenspannungen, Spektralanalysen, rheologische Untersuchungen und das Prüfen von Datenströmungen möglich. In Sachen Prototyping werden 3D-Druck, thermisches Verformen, Pick & Place, Lasergravieren und -schneiden und Druckverfahren zur Herstellung von funktionalen, dekorativen und strukturierten Oberflächen eingesetzt.
„Bislang war das Thema gedruckte Elektronik ein Flickenteppich“, erläutert Ralf Imbery. So hatten sich viele Unternehmen oder Institute auf einen Teil der vorhandenen Möglichkeiten spezialisiert. „Für Interessierte ergaben sich bei der Umsetzung komplexer Aufgabenstellungen deshalb oft Probleme durch verschiedenste Anlaufstellen. Jetzt haben wir alle Druckverfahren, alle Materialien und alle Veredelungstechniken unter einem Dach gebündelt, haben wirklich von A bis Z alles in einem Haus.“ Das Herstellen von Prototypen eröffne auch für den Möbelbereich ungeahnte Möglichkeiten, ist Bruno Lehmann, Leiter Geschäftsfeld Interior/Geschäftsbereich Oberflächen, überzeugt. Unternehmen könnten mit einer Produktidee zu Continental kommen. Der Konzern stellt dann die Grundüberlegungen an: Was brauchen wir? Welche Technologien kommen in Frage? Welche Anwendungen können daraus entstehen? Welche Werkstoffe müssen eingesetzt werden? Mit welchen Tinten wird gedruckt? Was wird benötigt, damit die Oberfläche bedruckbar wird? Nur ein paar von möglichen Fragen.
Erste Big Player aus der Küchen- und Holzwerkstoff-Branche haben bereits großes Interesse an gemeinsamen Projekten bekundet. Coronabedingt habe man aber noch nicht komplett Fahrt aufnehmen können. „Nach der Findungsphase sind wir nun offen für Kooperationen jeder Art“, bekräftigt Lehmann. Für die erste Kontaktaufnahme stünden mit Ralf Imbery und ihm selbst Personen zur Verfügung, die seit Jahrzehnten in der Branche bekannt sind. Als Resultat erfolgreicher Kooperationen könnte die Branche dann nicht nur neue, intelligente Produkte auf den Markt bringen, sondern es könnten sich auch neue Geschäftsmodelle entwickeln und etablieren.
Was auch aus strategischer Sicht für den Gesamt-Konzern Continental mit seinen 37,7 Mrd. Euro Umsatz enorm wichtig ist. Denn der will in den kommenden Jahren unter anderem seine Abhängigkeit vom Automobil-Geschäft weiter verringern. Dafür hat Continental immer wieder Kaufkandidaten im Visier, will gleichzeitig aber auch organisch weiter wachsen. Ein elementarer Baustein auf diesem Weg kann die mittlerweile voll in den Konzern integrierte ehemalige Hornschuch-Gruppe sein. „In Freiburg sollen einerseits für den Geschäftsbereich Oberflächen, andererseits auch für andere Segmente neue Produkte entstehen“, so Ralf Imbery. „Idealerweise entwickeln wir dabei noch neue Geschäftsmodelle, wie neue Wartungskonzepte, automatische Bestellabläufe oder digitale Services. Dabei stellt sich für uns immer wieder die Frage, wie wir unser existierendes Portfolio durch neue Produkte oder Technologien erweitern können.“
Dafür sei es in einem Konzern mit insgesamt rund 235.000 Mitarbeitern notwendig, vorhandenes, globales Wissen zu identifizieren, in einem Innovationsprozess zu kanalisieren und vorhandene Kompetenzen teilweise neu zusammenzusetzen. Als Kernfelder für funktionale Druck-Tests haben die Experten in Freiburg aktuell die Themen Sensorik, leitende und nicht-leitende Features, Kommunikation, Energie und Optik ausgemacht. Kernabsatzfelder sind die Bereiche Konsumgüter, Industrie und Automobil.
„Auf den Bereich Möbel bezogen sind sicher die beheizbaren Oberflächen sowie Licht und Sensorik mittelfristig am attraktivsten. Aber auch mit Sound wird experimentiert“, so Bruno Lehmann. „Die beheizbare Folie ist schon realisiert. Und man stelle sich vor, wie viele geklebte Richtungspfeile wir uns während der Corona-Pandemie zur Besuchersteuerung hätten sparen können, wenn eine optische Funktion direkt den Boden integriert gewesen wäre.“ Zudem ergäben sich neben der reinen Funktion oft weitere Vorteile in Sachen Gewicht, Kosten, Nachhaltigkeit und auch im Design.“
Erste Anwendungen wird Continental mit einem Concept-Car auf der IAA präsentieren. Im Herbst sollen dann auf einem gemeinsamen Kunden-Event erstmals Concept-Car und Tiny House zusammen vorgestellt werden.